Onwards and upwards.

Der letzte Eintrag ist ein halbes Jahr her, viele schlimme Dinge sind passiert, mir gehts viel besser, Zeit für ein Update.


Ende Mai hatte ich die Rückverlegung meines Stomas, nachdem im März noch ein übrig gebliebener Gallenstein im Gallengang entfernt werden musste. Die drei Tage um letzteres Ereignis herum waren mit die schlimmsten Schmerzen meines Lebens, und der heftigste Schlafentzug den ich je erlebt habe, bis zu dem Punkt dass ich nichtmal mehr müde war und Schüttelfrost ohne Fieber hatte (zu dem Zeitpunkt war ich bereits um die 40 Stunden wach gewesen, mit höchstens 2 Stunden Schlaf in der Mitte, unter keine einzige Sekunde nachlassenden Koliken-Schmerzen, in einem Gallengang kann ein Stein sich ja nirgendswo hinbewegen).

Die Rückverlegungs-OP war, erneut, die Hölle. Unerträgliche Schmerzen (mit Opiat-Spender auf Knopfdruck bei Bedarf weil ich so viel brauchte), unerträgliche emotionale Schmerzen on top, wieder ein kompletter Reset meiner physischen Kondition und 7 Tage Krankenhaus von innen, was ich spätestens jetzt nie, nie wieder brauche. Ich wurde in den Tagen vor der OP (zwei Tage nach meinem Geburtstag übrigens, super Timing, was für ein positiver Tag) immer nervöser, und ich erinnere mich noch sehr gut wie ich mich in den Momenten vor der Vollnarkose im OP gefühlt habe. Ich hatte Todesangst.

Ich wusste nicht ob ich wieder aufwachen werde; diese großen OPs haben tendenziell eine eher höhere Mortalitätsrate. Und wenn ich wieder aufwache, hab ich dann immer noch mein Stoma? Ein neues? Gabs noch ein ganz anderes Problem??? Die Sekunden vor dem medikamentös induzierten Schwinden des Bewusstseins waren definitiv die furchterregendsten in meinem Leben. Selbst vor der Not-OP im November hatte ich keine solche Angst, damals ging alles so schnell dass ich keine Zeit hatte zu verstehen was eigentlich passiert, aber diesmal konnte ich mich lange vorbereiten – vorbereiten darauf, welche Prozeduren bei der OP genau vollzogen werden und was alles wie schiefgehen kann. Im November, das weiß ich heute, war ich noch viel näher am Tod dran, und daran zu denken ist auch immer noch super scary, aber das tatsächliche Gefühl der Angst hatte ich im Mai, und auch das werde ich genauso wenig vergessen können.

Zumindest kann ich jetzt endlich versuchen alles aufzuarbeiten. Dass es überhaupt viel aufzuarbeiten gibt habe ich erst realisiert als ich wieder zu Hause war. Am ersten vollen Tag daheim ist meine Stimmung auf einmal total eingebrochen, obwohl ich mich erstmal gefreut hatte wieder zu Hause sein zu können. Ich hatte das schon im Krankenhaus gemerkt – die letzten zwei Tage vor der Entlassung hatte ich mehrere Male sehr plötzlich ganz heftig geweint, und war ständig so nah an den Tränen dran dass ichs leicht hervorrufen konnte. Das war neu für mich; so passiert das für mich eigentlich nicht.

Aber am Nachmittag des ersten Tags daheim bin ich auf einmal völlig zusammengebrochen. Ich hab so heftig geweint wie noch nie in meinem Leben. 10 Minuten am Stück, ohne aufhören zu können. Das hat mir zwei wichtige Dinge gezeigt:

  1. Die gesamte medizinische Geschichte ums Stoma herum hat mich viel stärker belastet als ich dachte, und ich hatte es bisher nur aus Selbstschutz ignoriert und weggeschoben. Und:
  2. Ich bin mittlerweile viel näher an meinen Emotionen dran und meine emotionalen Blockaden gegenüber Outlets negativer Emotionen wie Trauer haben ganz, ganz viel an Kraft verloren.

1. ist wenig überraschend. Ich habe die Rückmeldung bekommen, ich hätte das alles fast beängstigend stoisch ertragen. Und, rückblickend, habe ich das total – eben weil ich stoisch war. Ab dem Moment nach der OP habe ich mental praktisch in eine “alternative Realität” gewechselt, in welcher alles was jetzt los ist halt schon immer so war und kein Problem darstellt. Anders hätte ich dieses fundamental einschneidende Ereignis nicht ertragen können, welches mein Leben nicht nur auf den Kopf gestellt sondern teilweise sehr weitreichend zerstört hat in einem Maße welches ich immer noch bei weitem nicht wieder rückgängig machen konnte (und teilweise nie werde können). Und als ich dann daheim war, langsam merkte dass es jetzt endlich vorbei ist, brach alles los was ich bis dahin aufgestaut hatte. Das ist GESUND. That’s how it’s supposed to work. Du kannst ein traumatisches Ereignis nicht sofort bearbeiten. Du brauchst Schutz davor, und emotionale, räumliche und/oder zeitliche Distanz.

2. hat mich überrascht. In sehr positivem Sinne, so wie ich jedes Mal positiv überrascht bin wenn ich eindeutigen Anzeichen dafür begegne dass ich immer weiter aus meiner einst schweren, oft suizidalen Depression rauskomme, emotional immer weiter stabilisiere und mental immer stärker wäre. Mein Beitrag “A Normal Emotion” beschäftigt sich genau damit, und 10 Minuten am Stück heftig zu weinen weil man irgendwie beinahe gestorben wäre und ein halbes Jahr mit einer völlig ungeplanten schweren medizinischen Einschränkung und starken, viele Monate lang chronischen Schmerzen leben musste ist mehr als angemessen. Da warten noch viel mehr Tränen.

Das ist okey. Da werde ich auch noch hinkommen. Bis dahin darf ich erstmal mit den emotionalen Narben kämpfen, die das alles hinterlassen hat – zum Beispiel dass ich jedes Mal eine kleine Panikattacke bekomme wenn ich irgendein unbekanntes Körpergefühl habe oder irgendwas im Magenbereich auch nur ganz leicht unangenehm ist oder merkwürdig erscheint.


In anderen Bereichen versuche ich jetzt mein Leben wieder hochzufahren. Ich laufe seit ~2 Wochen wieder jeden Tag und werde bald einen Monat am Stück 10.000 Schritte am Tag schaffen können, auch wenn ich gerade mit dem Schrittzähler in meinem Handy kämpfe welcher extrem ungenau (1/5-1/3 Abweichung) in beide Richtungen misst da ich nur Jogginghosen trage (Jeans schmerzen immer noch zu sehr). Das hilft mir sehr, und ich hatte bereits einen sehr kathartischen Moment an der Alster welcher mir eine starke Motivation gegeben hat weiterzumachen. Mittelfristig will ich wieder ohne große Probleme die 6 Stockwerke meines Lieblings-Parkhauses am Flughafen hochlaufen können und endlich die 15.000 Schritte durchschnittlich pro Tag an einem Monat schaffen, was ich im Oktober ganz knapp verpasst hatte und im November dann ja nicht mehr erneut versuchen konnte – und langfristig gehts dann darüber hinaus. Es um den Flughafen rumschaffen ist dann glaube ich der nächste Meilenstein danach, aber dazu kommen wir wenn es soweit ist.


Ich habe meine Position meiner Bio-Familie gegenüber gefestigt, nachdem meine Mutter zur OP im November nochmal versucht hat wieder mehr Teil meines Lebens zu sein und das dann komplett in den Wind geschossen, mich extrem verletzt (ohne es wohl überhaupt zu verstehen, aber das ist ja Teil des Problems) und meinen letzten Glauben daran dass es doch irgendwann funktionieren könnte völlig zerstört hat. Die komplette Distanzierung die ich habe ist gut, sie ist notwendig, sie sollte sich nicht ändern und das wird sich auch nicht mehr; Teil meines Lebens kann nur sein wer 1. versucht ein positiver Einfluss zu sein auf eine Weise wie ich das entsprechend empfinde und 2. dazu auch in der Lage ist, und auch wenn ich 1. bei meiner Bio-Familie nicht in Frage stelle wird es zu 2. so wahrscheinlich kommen wie bei den meisten Menschen auf der Welt, also gar nicht.

Es tut mir Leid, aber ich brauche einfach einige Dinge die bei den meisten Menschen nicht vorhanden sind, und diese Familie ist da einfach keine Ausnahme. Keine Schuld die ich zuweise, und ganz sicher keine Entscheidung die ich treffe ohne dass sie mich extrem trifft und auch ganz schön kaputt macht, aber auch nichts das ich anders entscheiden kann wenn ich auf mich selbst so achten will wie ich es muss wenn ich überleben will – und vor allem emotional noch weiter nach oben kommen möchte.


Der Partner über den ich hier mittlerweile schon mehrfach geschrieben habe und ich verbringen momentan sehr viel Zeit miteinander, und das tut uns beiden sehr gut. Das ist zurzeit ein sehr positiver Faktor in meinem Leben und auch wenn sich das in absehbarer Zeit wieder etwas reduzieren wird hoffe ich dass es auf diesem Niveau von Positivität bleibt welche mich sehr merkbar nach oben zieht. Das gilt, soweit ich das sehen kann und verstanden habe, ganz genauso auch andersrum, insofern beruht das auch auf Gegenseitigkeit, und das ist wahrscheinlich die beste Voraussetzung.

Darüber hinaus stärke ich mein soziales Leben und mein soziales Verhalten immer weiter. Ich werde immer besser in Kommunikation und Sprachgebrauch; ich falle in alltäglichen Situationen inklusive soziale Treffen und neue Menschen kennenlernen (egal ob Dating-Kontext oder nicht) mittlerweile überhaupt nicht mehr auf und bin so zuverlässig dass ich wenn es emotional komplizierter wird trotzdem fast immer merke wo ein Problem liegt, oder zumindest dass da eins ist, und kann mehr oder weniger dann meta-kommunizieren (auch wenn das natürlich oft nicht mehr die Situation selbst rettet).

Auch das bestärkt mich jedes Mal wieder wenn das offensichtlicher wird, wie letztens als ich gemerkt hab dass meine OkCupid-Matches noch weiter gut nach oben gegangen sind als ich neue Fotos hochgeladen habe. Ich wirke sehr selbstbewusst und “stark” darauf, und das ist ein extrem wichtiges Achievement für mich, genauso wie der Grund dafür: Ich habe ein Kleidungsstück, einen Pullover, gefunden welcher sehr gut für mich funktioniert und sich einfach gut beim Tragen anfühlt. Da mein Fatshaming-Trauma momentan das stärkste und einflussreichste in meinem Leben ist welches mir andauernd reinhaut und regelmäßig Dinge einfach total zerstört ist das ein Sieg in einem meiner wichtigsten aktuellen Kämpfe. Letzens habe ich von meinem Partner ein paar Fotos von mir in meinem Pride-Shirt machen lassen, und als ich die Fotos angeschaut habe hat mich dieses Trauma da so heftig getriggert dass ich das Shirt nun praktisch nicht mehr tragen kann was echt einfach nur so unfassbar unnötig ist.


In einer Woche habe ich einen neuen Termin beim Jobcenter, mit einer neuen Sachbearbeiterin. Ich struggle hardcore mit meinen Finanzen, es reicht jeden Monat um um die 100€ nicht zum Leben und brauchen würde ich eigentlich 200-250€ mehr monatlich. Dieses Machtverhältnis macht jeden dieser Termine schon von vornherein sehr beängstigend, aber jetzt kommt noch dazu:

  1. dass ich meine Autismus-Diagnose nicht bekommen habe (über die Bullshit-Begründung und warum mir meine Eltern auch da etwas wichtiges zerstört haben hab ich was auf Twitter geschrieben) und sie deswegen nun wieder versuchen werden mich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren, was im schlimmsten Fall einen Rückfall in meine Depression bedeuten kann, und
  2. dass eine neue Sachbearbeiterin für mich zuständig ist, was bedeutet dass ich nicht weiß wie gut diese kommunikativ mit mir kompatibel ist und wie viel sie mir vertraut und das ist immer extrem angsteinflößend weil ich bei Inkompatibilität praktisch absolut machtlos bin (u.a. deswegen wollte ich ja auch die Diagnose haben).

Ich will immer noch unbedingt in Grundsicherung rein, das wäre für mich eine Sicherheit unter der ich mich endlich mehr damit beschäftigen kann mich zu stabilisieren, weiterhin Kommunikation und alles andere wichtige zu lernen – und dann könnte ich auch Therapie machen und am Ende in einem Status rauskommen unter welchem ich vielleicht sogar arbeitsfähig wäre. Aber da hinzukommen ist schwer, die Gesetzeslage macht das so schwer wie möglich besonders mit Menschen die das auf psychischer Ebene brauchen, und wenn nur das Glück oder Pech mit dem Sachbearbeiter den man bekommt den Unterschied zwischen einem Jahr lebenswichtigem Frieden und lebensgefährlicher Stressbelastung & finanzieller Notlage ausmachen kann sollte offensichtlich sein dass dieses System weder auf Menschlichkeit, noch auf Respekt, noch auf Würde ausgelegt ist und das letzte auf das ich vertrauen kann ist dass im Zweifel für mich entschieden wird. Viele persönliche Erfahrungen, und noch viel mehr Erfahrungen meiner Freunde und entfernteren Bekannten, bestätigen das permanent, und obwohl es das einzige ist das ich tun kann ist darauf zu hoffen dass man Glück hat indiskutabel naiv.


Well. Der medizinische Bullshit ist nun erstmal vorbei, und das bleibt hoffentlich auch so. Man hat mir ohne mein Wissen den Appendix rausgenommen und ich muss noch Stühlverdünner nehmen (darf ich übrigens selbst bezahlen), aber ansonsten hab ich das alles hoffentlich so weit wie möglich hinter mir. Sozial läufts immer besser, emotional läufts immer stärker, finanziell läufts immer schlimmer und Beschäftigungstechnisch läufts immer beängstigender. Aber, letztendlich, bin ich auch immer glücklicher, weil ich bei jedem einzelnen Bullshit-Felsen der mir entgegengeschmissen wird auch merke dass ich damit dann doch irgendwie umgehen kann, und das ist sehr reassuring. Mir wurde immer kommuniziert nichts wert zu sein wenn ich nichts produziere. Auch wenn ich heute viel Selbstwert aus meiner Fotografie beziehe ist das was mich am Stärksten macht wie Menschen um mich herum auf mich reagieren. Das wird immer besser, und ich weiß dass das ein Ergebnis meiner Arbeit an mir selbst ist – welche immer stärker wird, und ich habe nicht vor damit aufzuhören. Die großartigen Menschen in meinem Leben der letzten zwei Jahre haben mir ermöglicht zu einem viel besseren Menschen zu werden als ich jemals auch nur am Horizont gesehen habe – und ich bin zu einem glücklicheren Menschen geworden als ich je für möglich hielt. Und dieser ganze Bullshit kann es versuchen, but I’m still here. See?

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